Die Rückkehr der Giganten

Auszug

Diogo war sich nicht sicher, was er von Aileens Vorhaben halten sollte, doch er verkniff sich eine Bemerkung. Vielleicht hatte er sich wirklich nur von der Unruhe des Campleiters anstecken lassen, aber Semjon hatte bei allem seltsam verstört gewirkt und das war mehr als nur verwunderlich. Der Russe, ein Baum von einem Mann, den nichts erschütterte und der den Hühnerhaufen von Wissenschaftlern bislang gut im Griff hatte, warnte davor, den Giganten im Eis anzurühren. Doch Aileen war ihm sofort über den Mund gefahren und hatte ihn angewiesen, das Mammut quasi in einem Eiswürfel verpackt aus der Klippe zu schneiden und in die große Halle zu bringen, wo man es langsam auftauen und später ausreichend kühlen konnte. So wie damals Ötzi. Eine Mammutaufgabe, im wahrsten Sinne des Wortes. Denn es schien zu Anfang fast unmöglich, mit den vorhandenen Transportmitteln den riesigen Eiswürfel über den sumpfigen Boden ins Lager zu bewegen. Aber die Helfer erwiesen sich als ausgesprochen geschickt und trickreich. Die meiste Arbeit wurde in der Nacht erledigt, wenn alles wieder tief gefroren war.

Verrückt… Wir sind hier an einem Ort, der einst zum ewigen Eis zählte, und nun müssen wir tatsächlich ein Fundstück kühlen, dachte der portugiesische Biologe mit gemischten Gefühlen. Ein Hoch auf die neue Methode, das austretende Methan aus dem Boden zur Energiegewinnung zu nutzen, bevor es in die Atmosphäre verpufft. Verschwenden wir wenigstens keine zusätzliche Energie. Schade, dass wir nicht der ganzen Tundra so das Methan entziehen können.

Er versuchte sich zu erinnern, was Semjon über den Grund für seine Unruhe gesagt hatte. Am Anfang war es wohl nur die Prophezeiung eines einheimischen Geistersehers oder ähnlichem gewesen, die ihn zumindest zum Nachdenken gebracht hatte. Als dann aber plötzlich zwei der Tschuktschen, die mit Pawel zusammen die Geräte bedienen sollten, spurlos verschwunden waren und zwei weitere meuterten, war die Unruhe einer unterschwelligen Furcht gewichen.

Das alles interessierte Aileen nicht, die sich bereit machte, den Eisblock, der mittlerweile trotz aller Unbilden in der Halle befand, zu untersuchen. Diogo zögerte noch und nahm eine eingehende Nachricht auf seinem Messenger zum Anlass, im Labor zu bleiben. Er öffnete den Link zu einem neuen Video von dem Objekt, das ihn veranlasst hatte, die Reise ins ferne Sibirien anzutreten. Ana fütterte das Elefantenbaby, das zu einem Großteil Mammut-DNA in seinen Zellen hatte. Sein Zuchterfolg, ein Retortenmischling. Zwar sah es mehr nach seiner Mutter aus, einem indischen Elefantenweibchen, doch hatte es ein dichtes, langes Fell von rotbrauner Farbe. Ansonsten ein ganz normales Elefantenbaby, das von seiner Mutter allerdings verstoßen wurde.

„Ist das die Züchtung?“

Diogo fuhr herum und war erstaunt, Semjon hinter sich zu sehen. Der Russe mied das Labor meistens, er hatte keinen Bezug zu der Arbeit dort. Er nickte und versuchte ein Lächeln. „Ja, das ist der Kleine. Halb Elefant, halb Mammut. Die DNA ließ sich nicht eindeutig aus dem bisherigen Material bestimmen. Bei dem neuen Fund sieht das vielleicht anders aus.“

„Und wozu das Ganze? Um Gott zu spielen?“

Diogo antwortete nicht, sondern versuchte, Semjons Gesichtsausdruck zu analysieren. Doch er kam nicht dahinter, was in dem Mann vorging. Schließlich zuckte er seufzend mit den Schultern. „Am Anfang fühlt man sich tatsächlich ein bisschen wie Gott. Nach vielen Fehlschlägen wurde dieses Jungtier geboren, bei dem uns eindeutig eine Kreuzung aus ‚toter‘ und lebendiger DNA gelungen ist. Aber sie haben natürlich Recht… im Endeffekt ist es eine sinnlose Spielerei. Allerdings hoffe ich, daraus Erkenntnisse für wichtigere Dinge zu gewinnen.“

„Zum Beispiel?“

Es war ein Test, das wurde Diogo sofort klar. Wenn er dem Russen jetzt keinen wirklich sinnvollen Zweck seiner Forschungen nennen konnte, dann würde der Mann womöglich irgendwelche Gründe finden, die Arbeiten zu beenden. Trotz der Finanzierung aus dem Ausland waren sie in seiner Hand. „Es gibt andere Dinge - Tiere, Pflanzen – die wir Menschen bereits ausgerottet haben, die wir mit den Erkenntnissen hier vielleicht wieder auferstehen lassen können. Solche Arten, die möglicherweise mit der Entwicklung, die unsere Welt durchmacht, besser zurecht kommen als das, was jetzt beispielsweise die Nahrungsgrundlage für Milliarden Menschen darstellt. Wir können so viele Gene isolieren, haben aber immer noch zu wenig Ahnung, was für welche Funktion wichtig ist. Das kann entscheidend für den Fortbestand der Menschheit sein. Sei es, um neue Medikamente zu entwickeln. Oder um Erkenntnisse zu erlangen, wie wir mit dem Klimawandel fertig werden können. Zum Beispiel Getreidesorten zu finden, die Dürren oder Überschwemmungen überleben. Der Wandel geht nun mal zu schnell, als das der Mensch sich mit normaler evolutionärer Veränderung daran anpassen könnte. Der Fluch der langsamen Generationenwechsel.“

Semjon nickte und wandte seinen Blick von dem Monitor ab, hin zum Fenster, durch das man die Lagerhalle sehen konnte. Ob es Diogo gelungen war, den Russen zu überzeugen, konnte er nicht sagen. Schließlich wagte er, ihm eine Frage zu stellen, als das Schweigen quälend wurde: „Was ist eigentlich passiert? Sie wirken so verändert. Am Anfang hatte ich den Eindruck, dass unsere Arbeit sie auch ein wenig fasziniert. Jetzt fürchte ich fast, dass sie einen Grund suchen, hier die Zelte abzubrechen. Und warum sind die Tschuktschen so auf dem Sprung?“

Der Campleiter machte eine abweisende Handbewegung und sein Gesicht verzog sich zu einem Ausdruck komischer Verzweiflung. „Wissen sie… Ich bin ein halber Tunguske und auch bei denen gibt es noch den ein oder anderen Schamanen. Ich habe Respekt vor diesen Leuten, auch wenn ich ihren Glauben oder ihre Ansichten von den Zusammenhängen der Welt nicht teile. Bisher konnte ich über ihre Prophezeiungen nur milde lächeln. Doch dieses Mal ist irgendetwas anders. Mein Gefühl sagt mir, dass eine Katastrophe droht. Die Tschuktschen sehen das wohl genau so. Manche Geheimnisse sollte man dort belassen, wo sie sind. Ich bin mittlerweile der Ansicht, dass wir das Pferd von der falschen Seite aufzäumen. Anstatt Ressourcen darauf zu verschwenden, die Anpassung an den Klimawandel zu beschleunigen, sollte man sich doch besser darauf konzentrieren, die Ursachen in den Griff zu bekommen. Aber natürlich … das würde ja der Wirtschaft schaden und die Politiker fordern. Sie müssten über ihre Legislaturperioden hinaus denken und den Lobbyisten vors Schienbein treten. Macht keiner, kostet ja Geld. Also ein paar nette Forschungsprojekte finanzieren. Augenwischerei.“

Nun seufzte auch Diogo. „Meine Rede, schon seit langem. Natürlich ist es ein Triumph, etwas wiederaufleben zu lassen, das wir Menschen ausgerottet haben, aber wirklich sinnvoll ist es nicht. Das da“, er wies auf das Video von dem munteren, zotteligen Elefantenjungen, „ist mein Baby, es war eine interessante Arbeit. Aber ich wollte diese Arbeit nicht. Ich hatte der Universität andere Dinge vorgeschlagen, zum Beispiel die genetische Veränderung von Algen, Flechten und Moosen, die CO2 aus der Luft filtern können. Aber finanziert wurde das Rüsseltier. Von irgendeinem reichen Typen, der ein Mammut in seinem Privatzoo haben will. Jurassic Park, Folge 25.“

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